Rede von Axel Vater anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Christoph Heek – secret life“ am 25.03.2011 im Künstler- und Atelierhaus der Stadt Duisburg:
Es kommt gar nicht so selten vor, daß Mediziner ihre ärztliche Laufbahn abbrechen und ins Fach der bildenden Kunst wechseln. Umgekehrt habe ich aber auch schon erlebt, daß Künstler nochmals studieren und sich der Medizin zuwenden. Dort, wo das Begabungspoential für das professionelle künstlerische tun nicht ausreicht, werden Ärzte oft Sammler und frönen so ihrer Neigung und Liebe zur Kunst. Umgekehrt findet sich bei vielen Künstlerinnen und Künstlern ein starkes Interesse für Belange der Medizin.
Was verbindet nun aber Medizin und Kunst, woher kommt die erkennbare Nähe dieser beiden Felder? Das Stichwort ist ganz einfach die Abweichung von der Norm. Für den Mediziner ist die Norm der gesunde Körper. Was von dieser Norm abweicht, nennt er Krankheit, die er zu heilen, oder deren Auswirkungen er zu lindern sucht. Bei den Künstlerinnen und Künstlern verhält es sich umgekehrt. Auch sie gehen von der Norm aus, von den Formen, die uns vertraut sind und die wir tagtäglich wahrnehmen. Tony Cragg hat einmal gesagt: Kunst, das ist der Versuch, nie gesehen Formen zu schaffen. Um nie gesehene Formen zu schaffen, muß man aber von der Norm, vom scheinbar Normalen, vom Vertrauten abweichen.
„Denken ist besser als Wissen, aber nicht als Anschauen“, dieser Aphorismus Goethes bezeichnet treffend die zweite Gemeinsamkeit von Medizin und Kunst. Durch anschauen der Formen Anschauung und Erkenntnis zu gewinnen. Auch wenn dem Arzt heute vielerlei Geräte und Methoden der Untersuchung und Analyse zur Verfügung stehen, letztlich muß er aus den gelieferten Daten, aus den Formen die richtigen Schlüsse ziehen. Auch die Künstlerinnen und Künstler müssen Ihre Formen auf die formale Richtigkeit und Logik überprüfen, denn was von der Norm abweicht, muß deshalb noch lange nicht unbedingt richtig sein.
Christoph Heek, dessen Ausstellung wir heute eröffnen hat Medizin studiert und als Arzt gearbeitet, bis er sich mit fast vierzig Jahren entschlossen hat, ein Kunststudium zu absolvieren. Gezeichnet und gemalt hat Christoph schon immer, stammt er doch aus einem mit Kunst gesättigten Umfeld. Seine Mutter ist ausgebildete Fotografin und sein Vater war ein hervorragender Maler und Entwerfer von Glasfenstern und Bildteppichen. Zudem war Johann Peter Heek von Jugend an mit den Brüdern van der Grinten befreundet, in Kranenburg wohnte man nur einen Steinwurf voneinander entfernt und so blieb es nicht aus, daß Jan mit all den Künstlern aus dem Umfeld der van der Grintens bekannt war. Derlei macht sich in Biographien immer gut, aber auch wenn diese Gegebenheiten sicherlich nicht ohne Einfluß auf den Entschluß Christophs Künstler zu werden gewesen sein mögen, zwingend ist so was nicht. Christophs Schwestern haben mit Kunst gar nichts zu tun. Heeks Entschluß, so relativ spät noch Kunst zu studieren war mutig, denn ihm war das damit verbundene Defizit wohl bewußt. Wenn man wie ich mit 16 Jahren zum Studium an der Akademie zugelassen wird und drei Tage nach dem 17. Geburtstag dann das erste Semester beginnt, hat man alle Zeit der Welt, um sich auszuprobieren und seinen Weg zu finden. Diese Zeit hatte Christoph nicht. Er mußte und muß sich wohl überlegen was er tut und wie er es tut, was aber nicht bedeutet, daß seine Kunst nur kopfgesteuert ist. Natürlich arbeitet auch er experimentell und intuitiv.
Diese Ausstellung trägt den Titel „secret life“, geheimes Leben und ich übersetzte das mal ganz frei mit geheime Formen. In der Serie „conditio humana“ haben wir es mit Körperbildern zu tun, Körperbilder der besonderen Art. Ohne räumlichen Bezug, vor dunklem Hintergrund sind es fotografische Zerrbilder, die wesentliche Positionen und Überzeugungen bezüglich unserer Existenz hinterfragen. Heek arbeitet nicht mit Modellen, sondern photographiert sich selbst. Diese Selbstbefragung des Künstlers wäre für sich allein genommen nicht genug, auch wenn sie formal absolut überzeugend daher kommt. Das wäre vielmehr eine Art Selbsttherapie und wie ich mich mit Mittel der Kunst therapiere ist für meine Mitmenschen wenig interessant. Da muß mehr sein und da ist auch mehr. Wir wollen nun aber nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen, wir kennen ja alle diese Sprüche: Kunst soll Bewußtsein verändern oder gar Bewußtsein schaffen. Es geht auch eine Nummer kleiner. Angesichts der Körperbilder Heeks, deren beunruhigende Verzerrungen übrigens nicht durch Manipulation am Computer entstehen, sondern das Ergebnis extrem langer Belichtungszeiten sind, angesichts dieser Bilder sollten wir uns die Frage nach der eigenen Existenz, nach dem geheimen Leben in uns stellen. Ein geheimes Leben, das wir bisher vielleicht noch nie wahrgenommen haben oder wahrnehmen wollten.
Die zweite Serie, die Heek in dieser Ausstellung zeigt, befaßt sich mit dem geheimen Leben, den geheimen Formen in Büchern. Auch für das Buch gibt es natürlich eine Norm. Für uns ist es eine Abfolge von mit Schrift oder Bildern bedruckten Seiten, gebunden und zwischen den Deckeln des Einbandes geborgen und wir sind es gewohnt, diese Seiten nacheinander zu lesen oder zu betrachten. Wären wir nun des Lesens unkundig, so wären diese bedruckten Seiten für uns nichts weiter, als graphische Texturen. Genau das macht sich Heek zunutze. Erlegt die eingescannten Seiten eines Buches halb transparent übereinander und hat in der Summe eine neue, oft überraschende Form. Diese Form ist im Buch vorhanden, auch wenn wir sie so bisher nicht wahrgenommen haben, die geheime Form im Buch. Und wieder stellt sich uns angesichts dieser Arbeiten eine Frage. Welche geheimen Formen stecken wohl in all den Dingen, die uns so vertraut, so normal erscheinen, sind die Formen, die wir sehen das, was sie zu sein scheinen oder doch auch noch etwas ganz anderes.
Gustav Meyrink schreibt im Golem: Das ganze Leben ist nichts anderes als formgewordene Fragen, die den Keim der Antwort in sich tragen – und Antworten die schwanger gehen mit Fragen. Wer etwas anderes darin sieht, ist ein Narr. Für mich ist das die Aufgabe der Künstlerinnen und Künstler, uns mit noch nie gesehenen Formen zu verunsichern und zu verstören, damit wir Fragen stellen. Heeks Arbeiten tun das allemal, auch wenn das keine beruhigende Aussichten sind, wenn nicht so ist, wie es scheint – alles fließt. Hier mag übrigens auch der Grund liegen, warum neue Formen in der Kunst und ich meine damit nicht nur die Avantgarde ab dem 19 Jahrhundert, warum diese Formen oft vehement abgelehnt und bekämpft wurden und werden. Wir lieben die Norm, sie gibt uns Sicherheit, aber die ist nun mal trügerisch.
Natürlich haben sich auch andere Künstlerinnen und Künstler photographisch inszeniert, natürlich gibt es viele Künstlerinnen und Künstler die mit Schrift und dem gedruckten Wort arbeiten, aber so, wie Christoph Heek das tut, habe ich das noch nie gesehen. Seine Arbeiten sind überzeugende, noch nie gesehene Formen.
Axel Vater (2011)